Riesa vor 100 Jahren – in Zentrum des technischen Fortschritts

 

Da ich meine Kindheit und Jugend in Riesa an der Elbe verbrachte, möchte ich das kommende Jubiläum der vor 100 Jahren errichteten ersten Drehstromhochspannungsleitung in Europa zum Anlass nehmen, an jene Zeit zu erinnern, als Riesa im Mittelpunkt des technischen Fortschritts stand, dem ich auch mein großes Interesse an meinen späteren Arbeitsgebieten verdanke. Die stürmische Entwicklung von Riesa in jenen 100 Jahren von 1820 bis 1920 ist auch solchen engagierten Persönlichkeiten wie den Ökonomen Friedrich List, den Dresdner Professoren Richard Ulbricht und Andreas Schubert, den Industriellen von Schönberg zu danken

 

Riesa hatte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts sehr schnell von einer aus einem slawischen Fischerdorf und Klostergut hervorgegangenen Kleinstadt in eine Industrie- und Hafenstadt verwandelt. Die ursprüngliche Siedlung in der Nähe der Mündung der Jahna war in dieser recht dicht bewohnten Gegend eine von vielen und wurde als Riezowe im Oktober 1112 bei der Weihe des dortigen ältesten Klosters der Mark Meißen erstmalig urkundlich erwähnt. In Riesa entwickelte mit der Landwirtschaft in dieser Region auch das Handwerk, wobei auch die Elbe als Transportweg für die Güter eine Rolle spielte. Bomätscher genannte Schiffszieher zogen die Lastkähne mit Getreide und anderen Gütern in die bereits entwickelten Städte Meißen, Dresden und Pirna. 1635 schlossen sich Schuster, Schneider und Lohgerber zur ersten Handwerkerinnung zusammen. Riesa erhielt 1623 das Stadtrecht verlor es bald wieder, blieb bis zur Entwicklung des Verkehrsknotenpunktes mit Eisenbahnstrecken und Elbhafen als Marktflecken relativ unbedeutend und erhielt das Stadtrecht erst wieder 1859 erhalten.

 

1820 wurde erstmals eine Poststation errichtet und als 1839 der erste Zug der Leipzig - Dresdner Eisenbahn über die neue Elbbrücke fuhr, begann eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung. Diese erste deutsche Eisenbahnbrücke über einen Strom war mit der 1839 eingeweihten ersten Deutschen Ferneisenbahnlinie Dresden-Leipzig gebaut worden. Für diese Eisenbahnlinie trat besonders der bedeutende Ökonom Friedrich List ein. Die Eisenbahn bestimmte die weitere industrielle Entwicklung von Riesa. Später kreuzte sich diese Strecke in Riesa mit der Eisenbahnlinie Berlin - Chemnitz. Der Bahnhof mit dem gegenüber liegendem Postamt und einem Hotel in der Nähe waren markante Gebäude weit außerhalb des Stadtzentrums. Der Güterumschlag vom Schiff auf die Schiene brachte der Gemeinde bedeutende Einnahmen. Mit den Eisenbahnverbindungen nach Leipzig, Dresden, Chemnitz, Jüterbog, Elsterwerda und Nossen entwickelte sich Riesa zum bedeutenden Eisenbahnknoten in Nordsachsen und mit dem Eisenhammerwerk wurde 1843 der Grundstein für die Ansiedlung bedeutender Industrien gelegt. Es wurden auch große Speicher in Elbnähe errichtet. Friedrich List hatte für die Streckenführung der ersten deutschen Ferneisenbahn ursprünglich die Elbüberquerung bei der damals wenige Kilometer elbabwärts von Riesa liegenden größeren Stadt Strehla vorgesehen, wo sich im gegenüberliegendem Lorenzkirch ein alter Landweg mit dem Wasserweg kreuzte und dieses Dorf zu einem wichtigen Marktflecken machte. Sandablagerungen der Elbe hatten hier eine Furt ermöglicht und an den Ufern Hügel gebildet, auf denen sich die Bewohner in Ortschaften ansiedelten.

 

Der Rat von Strehla lehnte die Eisenbahnstrecke ab. Ursache dürfte die finanzielle Belastung sowie die Haltung der Adelsfamilie v. Pflugk gewesen sein, die in der Zeit der Ablösung des Feudalsystems jede Beeinflussung der Bevölkerung ihres Territoriums fürchtete. So wurde die Bahnlinie 1839 durch das kleinere Riesa gelegt, zumal das höhere Elbufer einen besseren Schutz vor Überschwemmungen bot. Riesa, anfangs noch ohne Stadtrecht, wuchs sprunghaft und Strehla verlor an Bedeutung:

 

Nachdem bereits um 1725 im Großraum Riesa erstmalig Eisen und Stahl produziert wurde, begann man 1843 mit der Errichtung eines Eisenhüttenwerkes in Riesa. Begründer waren die Gebrüder Heinrich und Alexander Schönberg. Nach englischem Vorbild wurden Erz und Kohle in Puddelöfen, mit Hilfe von Dampfhämmern zu Roheisen verhüttet. Dieses wurde in einem Walzwerke weiter verarbeitet. 1849 erwarb Graf von Einsiedel das Stahlwerk. Ende 19. Jhd. eröffneten der zunehmende Eisenbahnverkehr und Maschinenbau neue Einsatzgebiete. Achsen und Verbindungsplatten sind wichtige Erzeugnisse aus dem Riesaer Hüttenwerk. Im danach errichtetem Rohrwerk wurden geschweißte Rohre gefertigt. Die Kreuzung der Eisenbahn mit dem Schifffahrtsweg der Elbe brachte Riesa zu einer Spitzenposition in der Schwerindustrie. Mit der 1912 fertiggestellten ersten Drehstrom -Hochspannungsleitung in Europa für 110 kV von Lauchhammer nach Riesa wurden die Produktionsbedingungen im Stahlwerk erheblich verbessert.

 

1865 wurde ein Gaswerk gegründet, das das Hammerwerk, die Bahnhöfe und Straßenlaternen mit Gas versorgte. 1891 gewann die Königlich-Sächsische Staatseisenbahn den Ordinarius an der TH Dresden Friedrich Richard Ulbricht dafür, für die Bahnhöfe ein Drehstromelektrizitätswerk in der Chemnitzer Hohle zu bauen, das 1897 in Betrieb ging.

 

1904 errichteten die OHG Einhorn Co eine Ölmühle. Aus einem Gummiwerk entwickelte sich ein bedeutender Reifenhersteller. Im Jahr 1848 erschien mit dem „Elbe-Blatt“ die erste Wochenzeitung, aus der sich später das „Riesaer Tageblatt“ entwickelte. 1858 begann mit dem Einzug einer Reiterschwadron der sächsischen Kavallerie Riesas Garnisonsgeschichte. In der Folgezeit wurde Riesa die drittgrößte Garnisonsstadt in Sachsen.

 

Mit der 1878 fertiggestellten Stahlgitterbrücke entstand neben der Eisenbahnbrücke eine eigene Straßenbrücke über die Elbe. 1888 wurde der damals größte Binnenhafen Deutschlands im benachbarten Gröba fertiggestellt. der Riesa mit der Eisenbahnkreuzung zu einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt machte.

Die Elbe war ein wichtiger Verkehrsweg. 1836 wurde Andreas Schubert, Professor für Mathematik und Mechanik an der Technischen Bildungsanstalt Dresden, auch Direktor des neugegründeten Dresdner Actien Maschinenbau-Vereins. Schubert, der die Dampfschifffahrt auf der Seine kennen gelernt hatte, konstruierte die ersten Dresdner Dampfschiffe, die unter seiner Leitung auf der Vogelwiese am Johannstädter Elbufer gebaut wurden. Im Jahr 1837 ging mit der „Königin Maria“ das erste deutsche Personendampfschiff vom Stapel, dessen erste öffentliche Fahrt nach Rathen im Elbsandsteingebirge führte. Mitte des 19. Jahrhundert wurde zur besseren Kraftübertragung auf den Grund der Elbe von Leitmeritz bis Hamburg eine Stahlkette verlegt, unter die das angetriebene Kettenrad von Elbdampfern geschoben wurde. Wenn sich Dampfer begegnen, musste sich einer von der Kette trennen und anschließend wieder einfügen, wobei die zeitweilig bei den Kettenschlössern geöffnete Kette jedes Mal wieder zusammen gefügt, in machen Fällen auch wieder geschmiedet oder geweißt wurde.

 

Riesa hatte in meiner Kindheit ungefähr 27000 Einwohner. Es zieht sich mit dem 1925 eingemeindeten Gröba in 5km Länge und 1km Breite am linken Elbufer hin und hat keinen richtigen Stadtkern. Dem noch in der Elbniederung gelegenem dörflichen Altriesa am westsüdwestlichen Ende folgt in Richtung Nordosten parallel zur Elbe abwärts nach einem leichten Anstieg der alte Stadtkern mit Kloster, Klosterkirche, Rathaus und Rathausplatz. Von diesem führt eine lange Hauptgeschäftsstraße auf der von 1890 bis 1925 eine Pferdestraßenbahn an dem kleinen Rosenplatz genannten Park vorbei bis zum Bahnhof fuhr.

 

Am Rosenplatz standen auf der Hauptstraße ein Hotel, das später als Bank genutzt wurde, Geschäfte und die Verwaltungsgebäude der Mühlenbetriebe. Die Mühlen befanden sich zwischen der Elbe und diesen Gebäuden. Zwischen der Hauptstraße und der Elbe folgten dann Speicher, Sägewerke und eine kleine Fabrik, in welcher Kalkstein in frisch gefälltes Calciumcarbonat für die Zahnpasta der Fa. Chlorodont umgewandelt wurde. Die Straße traf dann auf die die Elbe kreuzende Eisenbahnlinie mit der das Stadtbild bestimmende Stahlbogenbrücke. Auf dem zur ehemaligen Flur Gröba gehörenden Gelände befand sich direkt hinter der Eisenbahnlinie das große Stahlwerk und ein Elektrizitätswerk, zu dem die Hochspannungsleitung von 110 kV vom Kohlekraftwerk Lauchhammer führte, die das Stahlwerk und die gesamte Region mit Strom versorgte.

 

In dem ehemaligen Fischerdorf Gröba hatten sich weitere Industriebetriebe, drei dem KONSUM gehörenden Fabriken, in denen Seife, Zündhölzer und Nudeln hergestellt wurden, und ein Reifenwerk angesiedelt. Die 1912 errichtete Seifenfabrik war nach einer vorher schon in Hamburg betriebenen Kaffeerösterei der erste Industriebetrieb als Eigenbetrieb der Konsumgenossenschaft in Deutschland.

 

Das Stadtgebiet von Riesa lag, wenn man von dem dörflichen Altriesa absieht, insgesamt etwas höher als die hier knapp unter 100m über dem Meeresspiegel dahinfließende Elbe. Direkt an der Elbe befanden sich ein Teil von Alt – Riesa, eine Kleingartenanlage, ein großer Stadtpark mit dem Stadtbad, Kaianlagen, Mühlen, Sägewerke, Dampfschiffanlegestellen und die Hafenanlagen. Das Rathaus war im  ehemaligen Gutschloss eingerichtet worden und vom Rathausplatz führte eine großzügig gestaltete Freitreppe zum Stadtpark hinunter.

 

Die Schaufelraddampfer für den Personenverkehr fuhren stromabwärts bis Mühlberg und stromaufwärts bis Leitmeritz in Böhmen. Die Elbe fließt bis kurz vor Riesa durch einen Absenkungsbruch des von Heidenau bei Pirna bis Strehla reichenden nach Nordwesten abgesenkten Meißner Granitmassivs. Im Gebiet um Riesa ist der vor ca. 300 Millionen Jahren erstarrte Granit durch Flussgerölle, Kiese, Sande, eiszeitliche Geschiebe und während der Eiszeit verwehte Lößsande bedeckt, in die sich die Elbe bei Riesa breit eingeschnitten und hinter dem rechten Elbufer neben dem jetzigen Elbstrom ein breites niedriges Gebiet eines alten Elbarms hinterlassen hat, das bei besonders großen Hochwasser zum großen Teil überschwemmt wurde. Aus den Sedimenten ragen kleinere zum Meißner Massiv gehörende kleinere Graniterhebungen beim Kutschenstein in Gröba und beim Nixenstein in Strehla heraus. In die Elbe fließen im jetzigen Stadtgebiet zwei kleinere linksseitige Nebenflüsse, die Jahna und die Döllnitz, deren Flußauen und fruchtbaren Ackerflächen die Landschaft im Südwesten prägen.

 

Parallel zur Elbe und der Hauptstraße zogen sich noch die Goethestraße mit kleineren Geschäften und die mit Stadtvillen bebaute Bismarckstraße hin, an deren beiden Enden sich zwei große Kasernen befanden. Hauptstraße, Goethestraße und Bismarckstraße waren durch Querstraßen verbunden, von denen einige nach Norden mehr oder weniger steil bis zur Elbe und andere nach Süden und Nordwesten zu später erbauten Siedlungen und zum Teil in die Nachbardörfer, von denen schon 1925 Gröba, Weida und Merzdorf eingemeindet wurden, weiterführten. Am südlichen Rande des geschlossenen Stadtgebietes war um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts die schon von weitem an ihrer Zuckertütenform erkennbare Trinitatiskirche, und danach eine Mädchenschule, eine Handelsschule und 1902 nach zehnjährigen Bemühungen ein Prorealgymnasium errichtet worden.

 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich auch eine rege Sportbewegung in Vereinen, was zum Bau von Turnhallen an den Schulen, Fußballplätzen mit Wettkampfstätten für die Leichtathletik, eine Radrennbahn in Gröba und ein Schwimmbad mit 5m Sprungturm im Stadtpark führte.

 

Mein Vater fand als Dreher in der Werkstatt im Elektrizitätswerk und der Vater meiner Mutter als Weichenwärter bei der Eisenbahn Arbeit. So wurde das industriell so bedeutende und kulturhistorisch relativ uninteressante Riesa meine Geburtstadt. Mein Vater war handwerklich sehr geschickt, vielseitig technisch interessiert und ein leidenschaftlicher Radiobastler. So konnte ich aus seiner Tätigkeit und den sehr lehrreichen Radiobastlerzeitungen schon sehr früh etwas über die Physik erfahren. Ich hielt Max Planck für den bedeutendsten Naturwissenschaftler des 20.Jahrhunderts und schlug später als Schüler der 11. Klasse vor, der Riesaer Oberschule den Namen Max Planck zu geben.

 

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